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12.02.2012, 10:10 Uhr | Stefanie Vogelsang MdB
Ritalin: Wer nicht passt… ... wird passend gemacht
Artikel in der FAZ-Sonntagszeitung vom 12.2.2012
Jeder kennt die Geschichte vom Zappelphilipp, die der Frankfurter Arzt Hoffman im Jahr 1845 schrieb: Trotz des strengen Blickes seines Vaters hört der kleine Philipp nicht auf, bei Tisch herum zu wippen und reißt schließlich den gedeckten Tisch zu Boden. „Zappelphillipp“, so nannte man früher die kleinen Jungs in der Schule, die einfach nicht still sitzen konnten oder wollten, um der Lehrerin brav zu lauschen.

Stefanie Vogelsang: ADHS nicht inflationär zur Erklärung von Schulversagen heranziehen (Bildquelle: S. Groß)
Doch was damals als Unart angesehen wurde, wird heute oft von vielen Ärzten als Krankheit diagnostiziert. Die Krankheit hat einen Namen: ADHS, das Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom. ADHS ist die häufigste psychiatrische Erkrankung bei Jugendlichen und Heranwachsenden. Immer mehr Kinder, die unter dem „Zappelphilipp-Syndrom“ leiden, bekommen das Medikament „Ritalin“ verabreicht. Wer es schluckt, wird unproblematisch für Eltern und Lehrer – und gut in der Schule. Die Bundestagsabgeordnete Stefanie Vogelsang warnt in der FAZ-Sonntagszeitung, man dürfe nicht länger wegschauen, wenn ADHS inflationär zur Erklärung von Schulversagen herangezogen werde:

von Antje Schmelcher:
Wenn Jungen wild und unangepasst sind, gelten sie schnell als krank: ADHS - Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom- lautet die Diagnose, die heute in Deutschland jeder zehnte Junge bekommt. Und es gibt ein Mittel, sie brav und angepasst zu machen: MPH, Methylphenidad, das in der Regel in Form des Medikaments Ritalin verabreicht wird. In höheren Dosen wirkt es ähnlich wie Kokain. Fast 1,8 Tonnen MPH landen in Deutschland jährlich in den Körpern von Kindern. Wer es schluckt, wird unproblematisch für Eltern und Lehrer - und gut in der Schule. Es ist vor allem jungenhaftes Verhalten, das in unserer Gesellschaft als krank gilt: Jungen bekommen die ADHS-Diagnose viermal so häufig wie Mädchen. In der Politik wird die Gefahr, dass Hunderttausende von Jungen mit chemischen Mitteln angepasst werden, bisher nur von wenigen erkannt. So warnte die Gesundheitspolitikerin Stefanie Vogelsang (CDU), man dürfe nicht länger wegschauen, wenn ADHS inflationär zur Erklärung von Schulversagen herangezogen werde. "Das Streben nach Leistung darf nicht durch Medikamente unterstützt werden", sagte Frau Vogelsang der F.A.S. An Kinder und vor allem an Jungen würden heute Maßstäbe angelegt, die nicht passten. Mit ADHS werde oft ein "Krankheitsbild zur Schadensbegrenzung" herangezogen, wenn die Zeit fehle, sich mit unangepassten Kindern zu beschäftigen. Der gesundheitspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion Jens Spahn bezeichnete die Entwicklung als "insgesamt bedenklich". Er forderte, das Thema "in Form eines Expertengesprächs im Gesundheitsausschuss zu diskutieren". Harald Terpe, Obmann der Grünen im Gesundheitsausschuss des Bundestages, sagte der F.A.S.: "Der enorme Anstieg von MPH-Verordnungen in den vergangenen Jahren lässt sich rein medizinisch nicht erklären." Terpe warnt, dass mit der Verschreibung von Ritalin "im Einzelfall auch ein nicht erwünschtes Verhalten wegtherapiert" werden solle. Die Pharmaindustrie unterstütze die Bedürfnisse einer Gesellschaft, in der Kinder unter erheblichem Erwartungsdruck stehen, "indem sie MPH als schnelle und einfache Lösung bewirbt und die erheblichen Risiken verschweigt". Ein Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums sagte, es gehe darum "sicherzustellen, dass bei Diagnose und Therapie von ADHS der Stand der medizinischen Wissenschaft eingehalten wird".